Kolumne
«Die uns was vor!» Wie mutig unsere Kinder sind

«Die uns was vor!» Wie mutig unsere Kinder sind

Die machen uns was vor! Es gibt Dinge, die Kinder besser können als Erwachsene. So übte zum Beispiel meine 9-jährige Tochter für den Turnunterricht die Standwaage mit anschliessendem Purzelbaum, ohne dass die Hände den Boden berühren durften. Natürlich wollte ich dies auch versuchen, und als sportliche Person – dachte ich – sollte dies für mich doch zu schaffen sein. Da hatte ich mich aber getäuscht: Irgendwie war dann die dünne Airex-Matte doch zu weit weg und ein Gefühl der Angst (hält das mein Rücken aus?) beschlich mich. Bei einem Ausflug mit Freunden wurde meine Schmach dann noch grösser, als die jüngeren Kinder (4 und 7 Jahre) die gleiche Turnübung ohne zu zögern auf der Wiese vollbrachten.

Motorisches Lernen ist ein vieldiskutiertes Thema, so war ich gespannt, ob ich Informationen finde, was Kinder besser können als Erwachsene bzw. welche Fähigkeiten beim Erwachsenwerden verloren gehen. Die Art des Lernens spielt sicher eine wichtige Rolle. Kleynen et al. unterscheiden in ihrem Artikel das implizite und explizite Lernen und verschiedene Lernstrategien und eingesetzte Elemente in der Therapie.1

Die Bereitschaft zum Lernen einer neuen Aktivität und vor allem der Wille und die volle Konzentration sind weitere entscheidende Faktoren. Das implizite Lernen scheint bei Kindern (v.a. in den ersten Lebensjahren) die bevorzugte Lernform zu sein. Neue Fertigkeiten eignen sich die Kinder spielend und unbewusst an. Bei uns Erwachsenen baut das Lernen vermehrt auf Erfahrungen auf, das bewusste (explizite) Lernen verläuft oft stufenweise und nicht mehr so linear wie als Kind.

Die Zeit, die es braucht, neue Bewegungsabläufe zu verinnerlichen, könnte demnach bei Kindern kürzer sein als bei Erwachsenen. Ebenfalls zeigen Kinder oft eine enorme Geduld, während Erwachsene bei Misserfolgen eher schneller aufgeben. Das wohl Entscheidendste ist jedoch die Unbeschwertheit der Kinder. Sie schauen einander zu, beobachten und versuchen es dann gleich selbst, ohne Angst vor dem Versagen. Auch Kinder in der Therapie besitzen diese Neugierde und die Spontanität, Neues auszuprobieren. Es muss ja nicht gerade eine schwierige Gymnastikübung sein.

Das Lernen in einer Gruppe von jüngeren und auch älteren Kindern wird im Buch von Herbert Renz- Polster und Gerald Hüther als antreibender Faktor genannt.2 In diesem Zusammenhang nennen sie den Begriff der Selbstorganisation als Prinzip des natürlichen Entwicklungsprozesses.2,3 Die Selbstorganisation unter Kinder dient als Grundlage für effektives Lernen. Eine altersdurchmische Gruppe von Kindern organisiert sich selbst und lernt dabei die individuellen und persönlichen Stärken kennen. Diese Beschreibung ist vergleichbar mit dem Prinzip der Selbstorganisation in der Bewegungs(mit)gestaltung aus „Die 10 Prinzipien des Bobath-Konzeptes“4. Das Prinzip beschreibt das Bild des eigenaktiven und handelnden Menschen in der Bewegungsentwicklung und -therapie.

Das Wissen in Bezug auf den Einfluss von Erfahrungen, Nachmachen, Lernen in der Gruppe und Bereitschaft zu lernen stammt mehrheitlich aus Beobachtungen und empirischer Erfahrung in der Pädagogik und Entwicklungspsychologie. Es ist schwierig, solch komplexe Fragestellungen mit einem Studiendesign zu erfassen und zu überprüfen. Wohl auch deshalb habe ich keine abschliessende Antwort auf meine Frage gefunden, was Kinder besser können als Erwachsene.

Ich wünsche mir, dass Kinder ihre Unbeschwertheit möglichst lange behalten können. Bei meiner Arbeit immer wieder von und mit ihnen lernen zu können, empfinde ich als grosses Privileg. In der Regel ist es ja so, dass Erwachsene Kindern etwas beizubringen versuchen. Umso schöner ist es, wenn wir Kinder in Momenten erleben, in denen es umgekehrt ist.

Quellenangaben

  1. Kleynen, M. et al. Multidisciplinary Views on Appying Explicit and Implicit Motor Learning in Practice: An International Survey. PLoS One 10, 1–15 (2016).
  2. Renz-Polster, H. & Hüther, G. Wie Kinder Heute wachsen. (Beltz, 2013).
  3. Mann, K. V. Reflection’s role in learning: increasing engagement and deepening participation. Perspect. Med. Educ. 5, 259–261 (2016).
  4. Ritter, G., Welling, . & Eckhardt, G. Die 10 Prinzipien des Bobath-Konozepts in der Kinder- Therapie. (Thieme Verlag, 2008).
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