Kolumne
«Function» Kontext oder Kind fokussierte Therapie

«Function» Kontext oder Kind fokussierte Therapie

„Focus on Function“ – das CanChild Center (https://www.canchild.ca/) in Hamilton Kanada hat 2011 in einer grossen randomisierten Studie den unterschiedlichen Einfluss von zwei Interventionen auf die „Funktion“ von Kindern mit Zerebralparese untersucht.1 Mit „Funktion“ ist gemeint, welche Leistung ein Kind in funktionellen Aufgaben und Bewegungen erbringen kann. Die eine Intervention wird als Kontext-fokussiert, die andere als Kind-fokussiert bezeichnet. Die Kontext-Therapie basiert auf der „Dynamischen System-Theorie“, die von Esther Thelen, einer kanadischen Entwicklungspsychologin, begründet wurde. Die Theorie besagt, dass verschiedene Voraussetzungen nach unterschiedlichen Lösungen verlangen. Zum Beispiel zeigen verschiedene Kinder unterschiedliche Lösungsstrategien. Die Theorie basiert zudem auf dem Konzept der Selbst-Organisation, die besagt, dass sich Abläufe aufgrund der Interaktion von mehreren Faktoren eines komplexen Systems ohne zusätzliche explizite Instruktionen verbessern. Die Therapie wird entweder von einer Ergotherapeutin oder Physiotherapeutin ausgeführt, diese ist die Haupttherapeutin. Mittels des `Canadian Occupational Performance Measure` (COPM) wurden gemeinsam mit den Eltern motorische Aktivitäten, die das Kind initiierte und für die es Interesse zeigte, ermittelt. Es wurden Faktoren bestimmt, die das Kind bei der Ausführung einschränken. Der Fokus der Behandlung lag darauf, diese Faktoren zu mindern oder zu ändern. Im Gegensatz dazu setzt die Kind-fokussierte Therapie direkt beim Kind an. Das bedeutet, dass das Bewegungsverhalten des Kindes verändert werden soll. Der Schwerpunkt liegt auf der Verbesserung der Bewegungsqualität. Die Therapeuten gehen in ihrem Befund anhand der `International Classification of Functioning, Dissability and Health` (ICF) vor. Sie identifizieren die funktionellen Limitationen auf der Struktur- und Funktionsebene und setzten entsprechende Übungen als therapeutische Mittel ein. Obwohl in der Studie das Bobath Konzept oder NDT nicht erwähnt werden, kann davon ausgegangen werden, dass deren Schwerpunkte mehrheitlich mit der Kind fokussierten Therapie übereinstimmen. Kinder zwischen einem und fünf Jahre in allen Gruppen der `Gross Motor Function Classification Scale` (GMFCS) wurden in die Studie miteingeschlossen. Während diesen ersten fünf Lebensjahren ist das Potential für motorische Verbesserung am Grössten (Vergleiche Fig. 1 GMFCS Level I-V).2 Die Interventionsdauer war 6 Monate, die Kinder erhielten im Durchschnitt drei Behandlungen pro Monat. Als Assessments wurden unter anderem der `Pediatric Evaluation of Disability Inventory` (PEDI) und der `Gross Motor Function Measure` (GMFM-66) benutzt. Als Kontrolle in Bezug auf strukturelle Veränderungen wurden die Gelenksmessungen der Beine ausgeführt. Im PEDI zeigten die Kinder beider Interventionsgruppen Verbesserungen nach den Interventionsphasen. Die Gelenkmessungen zeigten keine Verschlechterung in beiden Gruppen, hier weisen die Autoren darauf hin, dass das Fehlen der manuellen Therapie (Stretching) in der Kontext- Therapie Gruppe keine negativen Auswirkungen nach sich zog. Hier möchte ich gerne auf die Längenwachstumskurven aus den Züricher Longitudinalstudien verweisen. Da wird ersichtlich, dass die Wachstumsschübe im Längenwachstum erst nach dem fünften Lebensjahr beginnen.3 Obwohl diese Wachstumsschübe bei Kindern mit Zerebralparese geringer sind, ist auf den Kurven aus der Studie von Oeffinger et al. klar ersichtlich, dass die Tibia kontinuierlich wächst.4 Deshalb denke ich, muss dieses Fazit kritisch beurteilt werden. Wichtig ist also, dass die Resultate nur für die Gruppe von Kindern zwischen einem und fünf Jahre (roter Kasten) gelten. Die Schlussfolgerung der Autoren ist, dass die Kinder in beiden Interventionsgruppen ähnliche Fortschritte erzielten und die Frequenz der Intervention eine wichtige Rolle spielen könnte.

Mir stellen sich folgende Fragen: Könnte es nicht gerade eine Wechselwirkung zwischen Umwelt und Körperfunktionen sein, die zu einer besseren Handlungsfähigkeit führt? Oft stellt sich die Frage nach Qualität versus Quantität, doch auch hier kann diese Wechselwirkung zur Verbesserung auf beiden Seiten führen. In dieser Studie haben 136 Kinder und 272 Eltern teilgenommen. 79 Ergo- und Physiotherapeutinnen haben die Kinder behandelt, sieben Therapeuten haben die Assessments durchgeführt. Dieser grosse Aufwand muss den Kindern und den Familien zugute kommen, indem auch wir alle unsere Therapien immer wieder hinterfragen und unsere Massnahmen auf ihren Nutzen prüfen. Diese Studie zeigt sehr schön, wie die Kinder von den spezifischen Schwerpunkten und dem Fachwissen der Berufsgruppen profitieren können - sei es nun Umfeld-bezogen oder Körperstrukturbezogen. Dies ist gerade die grosse Stärke der entwicklungsneurologischen Therapie nach Bobath.

Quellenangaben

  1. Law, M. et al. Focus on Function - a randomized controlled trial comparing two rehabilitation interventions for young children with cerebral palsy. BMC Pediatr. 7, 31 (2007).
  2. Hanna, S. E. et al. Stability and decline in gross motor function among children and youth with cerebral palsy aged 2 to 21 years. Dev. Med. Child Neurol. 51, 295–302 (2009).
  3. Molinari, L., Largo, R. H. & Prader, A. Analysis of the growth spurt at age seven (mid-growth spurt). Helv. Paediatr. Acta 35, 325–34 (1980).
  4. Oeffinger, D. et al. Tibial length growth curves for ambulatory children and adolescents with cerebral palsy. Dev. Med. Child Neurol. 52, 195–201 (2010).
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