Kolumne
Chronischer Schmerz im Kindes- und Jugendalter

Chronischer Schmerz im Kindes- und Jugendalter

Ruth Portmann

selbständige Kinderphysiotherapeutin, Wohlen

MSc Physiotherapie

Chronischer Schmerz im Kindes- und Jugendalter An 14959 Kindern und Jugendlichen wurden im KiGGS (Kinder- und Jugendgesundheitssurveys) in Deutschland Daten erhoben, die aufzeigen, dass in der 3-Monats-Schmerzprävalenz (hattest Du/hatte ihr Kind in den letzten drei Monaten Schmerzen?) im Alter von 3-6 Jahren Buben mit 60,9% bejahten gegenüber Mädchen mit 63.4%. Während in der Altersgruppe der 14-17jährigen die Jungen mit 77,2% gegenüber den Mädchen mit 91.7% bejahten. Die 3 Monats-Prävalenz von Schmerzen nahm im Alter zu. Mädchen berichten in allen und speziell im oberen Alterssegment signifikant über mehr Schmerzen. Ältere Mädchen scheinen also im Vergleich zu den Jungen häufiger Schmerzen zu haben. Häufigste Schmerzlokalisation der 3-10jährigen beider Geschlechter war der Bauch, gefolgt von Kopf und Hals. Bei den 11-17jährigen ist es am häufigsten der Kopf gefolgt von Bauch und Rücken. Mehr als 54% der 3-10jährigen und fast 40% der 11-17jährigen konsultieren wegen wiederkehrenden Hauptschmerzen den Arzt. Medikamente nahmen 36.7% der jüngeren und 46.7% der älteren Gruppe ein. Diese breit angelegte Studie zeigt, dass Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ein ernst zu nehmendes Problem darstellen 1.

Währenddem der akute Schmerz eine Warnfunktion hat im Sinne des Schutzes vor extremen Gefahren, Schutz vor Verletzungen oder Gewebsschäden und nur Sekunden bis einige Wochen dauert, einen klaren Auslöser hat und mit Beendigung des Auslösers auch der klar lokalisierbare Schmerz verschwindet, ist das Schmerzgeschehen bei chronischen Schmerz ein ganz anderes.

Der chronische Schmerz dauert länger als drei Monate und ist wiederkehrend, er taucht nicht als Warnsignal auf, die Dauer eines normalen Heilungsprozesses ist überschritten, es fehlt eine organische Ursache und er stellt ein eigenes Krankheitsbild dar.

Melden Nozizeptoren Schmerz im ZNS, dann entstehen auf verschiedenen Ebenen komplexe Reaktionen. Unter anderem werden andere Zentren aktiviert, die über absteigende Bahnen eine Schmerzhemmung bewirken. Bei langanhaltenden wiederkehrenden Schmerzen ist diese hemmende Funktion beispielsweise erschöpft. Auch die Plastizität des Gehirns beeinflusst das Scherzempfinden. Durch die Ausschüttung einer Vielzahl von chemischen Stoffen erhöht sich die Erregbarkeit der Rezeptoren am Ort der Schädigung und im Nachbargewebe. Normalerweise sind die Rezeptoren für Schmerz und Berührung anatomisch voneinander entfernt. Bei der zentralen Sensibilisierung auf Grund wiederkehrender langanhaltender Schmerzen kommt es zu einer Verknüpfung dieser beiden Systeme. Der Druck auf die Haut wird nun als Schmerz empfunden (Alllodynie). Die vielen plastischen Veränderungen führen auch zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. Die Nerven reagieren nicht mehr normal auf normale sensorische Reize.

Zudem reagiert das sich entwickelnde kindliche Nervensystem anders gegenüber einem reifen erwachsenen System. Ein Grund ist, dass das unreife nozizeptorische System grössere rezeptive Felder und dominante A Faser Inputs aufweist, was dazu führt, dass das kindliche sensorische Reflexsystem sensibler auf Stimuli reagiert 2.

Wie begegnen wir in der Praxis Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen? Nachdem «red flags» ausgeschlossen werden konnten, gilt es, der Komplexität diese Krankheitsbildes Rechnung zu tragen. Das bio-psycho-soziale Modell in der Psychosomatik nach Engel beschreibt ein Konstrukt, bei dem sich der Schmerz im Zentrum von drei Wirkfeldern befindet: den biologisch strukturellen Faktoren, den psychologischen Faktoren und den sozialen (Umgebungs-) Faktoren. Der Therapieansatz ist daher zwingend interdisziplinär. Es ist wichtig, die Suche nach der Gewebsschädigung aufzugeben und sich dem Menschen mit chronischen Schmerzen in seiner Komplexität zuzuwenden. Das Wissen darüber existiert schon relativ lange. In der Praxis gilt es also, mutig und schnell in die interdisziplinäre Arbeit mit Psychologen, mit der Familie, der Schule, den ÄrztInnen und den TherapeutInnen (PT, ET) über zu gehen. Es muss gut zusammengearbeitet und kommuniziert werden und es müssen zeitliche und personelle Ressourcen vorhanden sein. Es existieren Assessments zur Erfassung der Beeinträchtigung durch den Schmerz: der DSF-KJ (deutscher Schmerzfragebogen für Kinder Jugendliche und deren Eltern), der P-PDI (Pain Disability Index) und die SKS-D (deutsche Fassung der Schmerzkatastrophisierungsskala). Am UKBB (Universitäts-Kinderspital beider Basel) beispielsweise, wo es bereits ein paar Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen gibt, arbeiten Spezialistinnen auf diesem Themengebiet.

Das Thema ist sehr umfassend, was uns nicht abschrecken sollte. In diesem Kolumnenformat kann es ausschliesslich als hinweisende Information abgehandelt werden.

Quellenangaben

  1. Ellert, U., Neuhauser, H., Roth-Isigkeit, A., Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Prävalenz und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 50. 711-717 (2007)
  2. Campos, A.A., Amaria, K., Campbell, F., McGrath, P.A., Clinical Impact and Evidence Base for Physiotherapy in Treating Childhood Chronic Pain Physiotherapy Canada 63(1). 21–33 (2011)
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