Kolumne
Die Kleinsten Patienten

Die Kleinsten Patienten

Petra Marsico

Physiotherapeutin & Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kinder-Reha Schweiz

Studienleiterin SAKENT I ASEND

Diese erste Kolumne möchte ich den ganz Kleinen widmen. Den Neugeborenen, die einen schwierigen Start ins Leben meistern müssen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich vor zehn Jahren einen wenige Wochen alten Jungen auf einer Alp physiotherapeutisch behandeln durfte. Es hat mich berührt und beindruckt, mit wieviel Vertrauen die Eltern mir ihren Jungen anvertraut haben. Es waren sehr schöne Stunden, die mit viel Austausch, aber auch mit ruhigen Momenten gefüllt waren. Vor dem Abstieg erhielt ich ein „Plättli“ mit Käse und weiteren feinen Speisen von der Alp.

Gerade wegen diesem engen Austausch mit den Eltern empfinde ich die Betreuung der Kleinsten als ganz besonders wertvoll. In dem Zentralnervensystem bilden sich in den ersten Lebensjahren viele synaptische Verschaltungen. Die Neuroplastizität ist sehr hoch, weshalb wir von einer ebenfalls hohen Wirksamkeit der Therapie ausgehen. In der aktuellen publizierten Literatur jedoch wird die Wirksamkeit der physiotherapeutischen Intervention bei Neugeborenen nicht immer bestätigt. Heute ist es schwierig, eine solche Wirksamkeit zu überprüfen. Ethisch wäre es nicht vertretbar, eine Gruppe von Kindern mit Risiko zu neuro-motorischen Einschränkungen nicht zu behandeln, während eine andere Gruppe behandelt würde. Daher wird die Wirksamkeit auf diese Weise wohl nicht untersuchbar sein. Eine Autorengruppe aus Kopenhagen verfasste ein Review zu „early identification and intervention in cerebral palsy“.1 Der Artikel beleuchtet die Punkte, die eine Untersuchung des Nutzens physiotherapeutischer Interventionen erschweren. Auch in den Augen dieser Autoren ist eine randomisierte Studie mit Kontrollgruppen ethisch nicht vertretbar. Zusätzlich gibt es auch Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung, sprich, die Kinder zu entdecken, die später neuro-motorische Einschränkungen entwickeln. Die Autoren weisen auf kritische und sensible Phasen in der Entwicklung hin und die Neuroplastizität, die die Grundlagen einer Bewegungstherapie bilden. Elemente aus Therapien werden genannt. Zum Beispiel, dass der Wert auf eine adäquate Stimulation während der Entwicklung gelegt wird und die aktive Partizipation im Mittelpunkt steht. Als Konklusion halten die Autoren fest, dass eine Frühintervention bei Kindern mit dem Risiko, eine Zerebralparese zu entwickeln, sehr wichtig ist und das Wissen aus der Neurowissenschaften die Grundlage dazu bietet. Jedoch braucht es weitere randomisierte kontrollierte Studien.

Prof. Gail Landsman, selbst Mutter eines Kindes mit Zerebralparese, hat mit einer Gruppe von Forschern, Ärzten, Therapeuten und Eltern klinische Behandlungsrichtlinien u.a. für Kinder mit Zerebralparese entwickelt. In ihrem Artikel “What evidence, whose evidence?: Physical therapy in New York State’s clinical practice guideline and in the lives of mothers of disabled children”,2 empfiehlt sie detaillierte Langzeitstudien, um den Familien und ihrer Individualität gerecht zu werden. Ebenfalls stellt sie die Frage in den Raum, ob jeweils immer eine Verbesserung der motorischen Entwicklung erwartet werden kann und soll. Darf die Therapie auch eine Hilfe und Unterstützung für das Kind und die Familie sein, um in ihrem Umfeld partizipieren zu können?

Wie in meinem Beispiel ganz am Anfang erwähnt, ist wohl das Wichtigste überhaupt die Beziehung und der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses des Therapeuten zu den Eltern, Geschwistern und dem Kind selbst. Dies ermöglicht eine Therapie, mit der das Kind und die Familie optimal zu begleitet werden können.

Quellenangaben

  1. Herskind A, Greisen G, Nielsen JB. Early identification and intervention in cerebral palsy.
    Dev Med Child Neurol. 2015;57(1):29–36.
  2. Landsman GH. What evidence, whose evidence?: Physical therapy in New York State’s clinical practice guideline and in the lives of mothers of disabled children.
    Soc Sci Med. 2006;62(11):2670–2680.

Zurück zu Kolumnen