Kolumne
Emotionen und Tonus/Körperspannung

Emotionen und Tonus/Körperspannung

Petra Marsico

Physiotherapeutin & Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kinder-Reha Schweiz

Studienleiterin SAKENT I ASEND

«Emotionen und Tonus/Körperspannung» ist ein Thema, das mich seit einiger Zeit beschäftigt. Aktuell habe ich das Buch von Lisa Feldman Barrett «Wie Gefühle entstehen: das geheime Leben des Gehirns” gelesen. Das Buch beschreibt unsere Emotionen im Zusammenhang mit unserem Energiehaushalt, unserer Körperwahrnehmung, unserer Körperhaltung und unseren Handlungen. Das hat mich dazu angeregt, nach Literatur über den Einfluss von Emotionen auf den Tonus bei Kindern mit neuromotorischen Einschränkungen zu suchen. Gleichzeitig hatte ich eine spannende therapeutische Erfahrung mit einem Kind und seiner Familie, die ich gerne mit euch teilen möchte:

Ein Junge mit einer bilateralen Cerebralparese (GMFCS Level IV) kam über einen längeren Zeitraum zu mir in die Wassertherapie. Ziel war es, dass er eine Fortbewegung im Wasser findet, die er selbständig ausführen kann. Meine Idee war, dies in Rückenlage zu versuchen. Nun hatte der Junge einen sehr starken Tonus in Richtung Beugung. Vor allem der M. iliopsoas (Hüftbeuger) war sehr angespannt und der Junge drehte sich immer wieder auf den Bauch, aber dann war der Kopf unter Wasser - also keine sehr praktische Lage für eine Fortbewegung. Mit verschiedenen Spielideen, wie dem Greifen nach Ringen (aufgehängt an eine Schnur über dem Schwimmbecken gespannt) und dem Betrachten von projizierten Bildern an der Decke, konnte sich der Junge immer mehr entspannen und auf dem Rücken liegen - denn wie die meisten Kinder fand er das anfangs gar nicht toll. Mit Schwimmhalskragen und Flossen gelang es ihm nach einem halben Jahr, sich selbständig auf dem Rücken fortzubewegen. Dies ist im Moment die einzige Möglichkeit für den Jungen, sich ohne Hilfe selbständig fortzubewegen. Natürlich war er dementsprechend stolz: «Ich kann das ganz alleine!».

Aus meiner therapeutischen Sicht war der Schlüssel zu seinem Erfolg, sich zu entspannen und loszulassen. Da er sehr gerne im Wasser ist und auch gerne taucht, führten diese Emotionen dazu, dass sich seine Hüftbeuger sehr stark anspannten - jedes Mal drehte er sich sofort auf den Bauch. In diesen sechs Monaten lernte er, seine Emotionen zu dosieren und schaffte es, sich auf dem Rücken zu halten und weiter zu treiben. Eine Studie aus dem Jahr 1971 untersuchte den Einfluss von emotionalem Stress auf den Muskeltonus bei 18 Erwachsenen mit chronischer Muskelhypertonie. Die Autoren konnten zeigen, dass emotionaler Stress bei Personen mit Spastizität immer zu einer Erhöhung des Tonus des M. quadrizeps führte. Emotional-psychische Faktoren haben also einen wesentlichen Einfluss auf die Regulation des Muskeltonus und die Spastizität haben (Boman, 1971). Interessanterweise konnte ich keine neuere Studie zu diesem Thema finden. Das hat mich sehr erstaunt, da der Muskeltonus in der orthopädisch-neurologischen Sprechstunde oft ein Thema ist. Bei gesunden Erwachsenen konnte gezeigt werden, dass negative Emotionen zu einer erhöhten Muskelaktivität vor allem im thorakalen und lumbalen Bereich führen (Scheer et al., 2021). Wie bereits erwähnt, ist der hohe Tonus bei Kindern und Erwachsenen mit Hirnschädigungen immer wieder ein Thema. Es gibt Hinweise darauf, dass Spastizität die Lebensqualität von Erwachsenen nach einem Schlaganfall negativ beeinflusst (Gillard et al., 2015). Auch bei Kindern mit Cerebralparese konnte gezeigt werden, dass Spastizität einen indirekten negativen Einfluss auf ihre Lebensqualität hat, indem die grobmotorische Aktivität reduziert ist (Park, 2018).

Leider gibt es keine Studie, die untersucht, ob und wie Emotionen den Tonus bei Kindern mit neuromotorischen Störungen beeinflussen. Ich denke, dass dies ein spannendes Thema wäre, das es sich zu untersuchen lohnt, denn wenn Emotionen den Tonus und damit die Lebensqualität der Kinder beeinflussen, könnte dies eine weitere Möglichkeit für therapeutische Massnahmen darstellen. Denn etwas ganz alleine zu können, steigert die Selbstwirksamkeit und ist doch einfach toll.

Quellenangaben

  1. Boman, K. (1971). Effect of emotional stress on spasticity and rigidity. In Journal of Psychosomatic Research (Vol. 1, Issue 5). Pergamon Press.
  2. Gillard, P. J., Sucharew, H., Kleindorfer, D., Belagaje, S., Varon, S., Alwell, K., Moomaw, C. J., Woo, D., Khatri, P., Flaherty, M. L., Adeoye, O., Ferioli, S., & Kissela, B. (2015). The negative impact of spasticity on the health-related quality of life of stroke survivors: A longitudinal cohort study. Health and Quality of Life Outcomes, 13(1). https://doi.org/10.1186/s12955-015-0340-3
  3. Park, E. Y. (2018). Path analysis of strength, spasticity, gross motor function, and health-related quality of life in children with spastic cerebral palsy. Health and Quality of Life Outcomes, 16(1). https://doi.org/10.1186/s12955-018-0891-1
  4. Scheer, C., Kubowitsch, S., Dendorfer, S., & Jansen, P. (2021). Happy Enough to Relax? How Positive and Negative Emotions Activate Different Muscular Regions in the Back - an Explorative Study. Frontiers in Psychology, 12. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.511746
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