Kolumne
Exekutive Funktionen

Exekutive Funktionen

Eva Stephan

Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, Zürich

Logopädin MAS NDT

Obwohl sie unter einer schweren Dysarthrie leidet und kaum verbale Sprache zur Verfügung hat, kennt sie schon im Kindergarten sämtliche Buchstaben. Sie hört den Anlaut eines Wortes heraus. Dem Schulerfolg scheint trotz der schweren körperlichen Beeinträchtigung nichts im Wege zu stehen.

Fünf Jahre später zeigt sie immer noch ein grosses Interesse an Schrift. Sie schreibt einzelne Wörter auf dem iPad. Sie kann einfache Wörter lesen, aber einem Satz oder Text beim Lesen einen Sinn zu entnehmen, fällt schwer. Sie ist jetzt in einem Alter, in dem sich typisch entwickelte Kinder mit entsprechendem Interesse ganze Bücher lesen. Warum ist die Schere zu den typisch entwickelten Peers weit aufgegangen?

Laut einer Gruppe von Fachkräften für Lerntherapie, die ich neulich auf einer Weiterbildung kennenlernen durfte, liegt es daran, dass die exekutiven Funktionen zu wenig trainiert wurden. Sie erzählten Erfahrungen von Kindern mit Lernschwierigkeiten, die nach intensiver Lerntherapie mit dem Fokus auf die exekutiven Funktionen wieder Schritt halten konnten mit den Gleichaltrigen ihres Jahrgangs.

Was sind exekutive Funktionen? Der Begriff beschreibt höhere kognitive Fähigkeiten und unterschiedliche mentale Prozesse.1 Folgende drei Hauptkomponenten gehören zu den exekutiven Funktionen: Impulskontrolle, kognitive Flexibilität und Arbeitsgedächtnis. Kinder mit Cerebralparese haben ein höheres Risiko, Probleme mit den exekutiven Funktionen zu entwickeln, weil die exekutiven Funktionen von der Leitfähigkeit von Nervenverbindungen in der weissen Substanz abhängig sind, welche bei einer Cerebralparese häufig Läsionen aufweist.2 Doch wie wirkt sich dies auf den Schulerfolg aus? Die inhibitorische Kontrolle ermöglicht es, Gedanken, Emotionen, Verhalten und Aufmerksamkeit zu kontrollieren.3 Dazu gehört beispielsweise das Ausblenden aller Reize, die gerade nicht relevant sind.3 Meine inhibitorische Kontrolle wurde neulich beim Cappuccino auf einer italienischen Piazza auf die Probe gestellt: Während mein Mann versuchte, mir seine Einschätzung zum Rücktritt der britischen Premierministerin mitzuteilen, wurde ich abgelenkt durch eine Gruppe von Personen in historischen Kostümen, die sich für eine Inszenierung auf der Piazza bereit machte. Statt des Rücktritts der britischen Premierministerin könnte man auch einen beliebigen Lerninhalt nehmen und statt historischen Kostümen irgendeinen Ablenker, der in einem Schulalltag häufig vorkommt. Das Mädchen soll üben, einfache Wörter zu lesen. Zwei Betreuungspersonen tauschen sich kurz über etwas aus, die Physiotherapeutin kommt vorbei, um mitzuteilen, dass die Orthesen fertig sind – und schon kann sich unsere Leseratte nicht mehr auf ihre Aufgabe konzentrieren.

Das Arbeitsgedächtnis ermöglicht, Informationen für kurze Zeit zu behalten und mit ihnen zu arbeiten, im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis, welches nur für das Behalten von Information zuständig ist. Wir brauchen das Arbeitsgedächtnis, um eine Instruktion in eine Handlung umzusetzen oder neue Information in einen Plan einzubauen.3 Das Arbeitsgedächtnis wird beispielsweise bei verbalen Anleitungen für einen Bewegungsübergang sehr gefordert, vor allem dann, wenn wir weitere Anleitungen geben, während, das Kind versucht, die Handlung umzusetzen.

Eine neuere Studie kommt zum Schluss, dass die Förderung der exekutiven Funktionen bei Kindern mit Cerebralparese zur erfolgreichen Partizipation im Schulalltag beitragen könnte.4 Der Fokus lag auf schulischen Funktionen (den Aktivitäten, die nötig sind, im Schulalltag teilzunehmen, wie Umgang mit Materialien, sich fortbewegen, in einer Position verbleiben etc.) und nicht auf dem schulischen Lernen.4 Der Einfluss der exekutiven Funktionen auf das Lesesinnverständnis wurde ebenfalls beschrieben.5 Die exekutiven Funktionen zu fördern macht also Sinn. Aber wie?

Viele Spiele trainieren auf lustvolle Weise die exekutiven Funktionen. Doch oft stehen wir vor der Frage, wie wir das Spiel adaptieren und vereinfachen müssen, damit es motorisch und kognitiv spielbar wird für das Kind mit Cerebralparese (Prinzip Umfeldgestaltung).

Das Bobath-Konzept, als 24-Stunden-Konzept, ist für das Training der exekutiven Funktionen geeignet. Denn in vielen Alltagssituationen kommen sie zum Tragen: Warten mit Ballkicken, bis die Therapeutin bereit ist. Auf den Lift warten, ohne die Therapeutin zu kneifen (Impulskontrolle). Einen kleinen Auftrag ausführen, zum Beispiel jemandem etwas ausrichten (Arbeitsgedächtnis) und reagieren können, wenn die Zielperson nicht da ist (kognitive Flexibilität). Wir dürfen uns im Alltag immer wieder bewusst machen, dass wir die exekutiven Funktionen fördern - ohne ein spezifisches Lernprogramm.

Ob das eingangs erwähnte Mädchen allein dadurch zur Leseratte wird, wage ich zu bezweifeln. Aber an der verbesserten schulischen Partizipation zweifle ich nicht.

Quellenangaben

  1. Bodimeade, H. L., Whittingham, K., Lloyd, O., & Boyd, R. N. (2013). Executive function in children and adolescents with unilateral cerebral palsy. Developmental Medicine & Child Neurology, 55(10), 926–933.
  2. Freire, T. & Osòrio, A., (2020). Executive Function and drawing in young children with cerebral palsy: Comparison with typical development. Child Neuropsychology 26 (5), 635-648.
  3. Diamond, A. (2013). Executive Functions. Annu Rev Psychol., 64, 135-168.
  4. Mousavi, E., Akbarfahimi, N., Moein, S. & Vahedi, M. (2022). A study of the relationship of Executive Function and School Function in Children with Cerebral Palsy. Journal of Occupational Therapy, Schools, & Early Intervention, 1-13.
  5. Nouwens, S., Groen, M., Kleemans, T. & Verhoeven, L. (2021) How executive functions contribute to read-ing comprehension. British Journal of Educational Psychology, 91, 169-192
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