Eva Stephan
Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, Zürich
Logopädin MAS NDT
Ich bin diesen Sommer nicht weggefahren. Zu schön waren der Garten und das Ufer des Rheines gleich in der Nähe. Gereist bin ich trotzdem. Ich war in London, in Georgien und auf Capri. Mein Transportmittel: Bücher. Ich war schon immer eine begeisterte Leserin und mein Bibliotheksausweis ist eine Fahrkarte: Er ermöglicht mir Fluchten aus dem Alltag und fiktionales Reisen. Das Einzige, was ich leisten musste: Lesen lernen. Meine Lehrerin hat es als gegeben angesehen, dass alle ihre Schüler:innen diese Fähigkeit erwerben würden.
Geht es um Kinder mit einer schweren (Mehrfach-)Behinderung ist dieses Grundvertrauen in die Möglichkeit zu lernen häufig nicht gegeben. Erickson & Koppenhaver beschreiben die Unsicherheit von Logopäd:innen und Heilpädagog:innen, die Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen betreuen: Lediglich ein Drittel der befragten Fachpersonen glaubte daran, dass die Kinder Schriftsprache erwerben könnten.1 Das bedeutet, dass Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen unter Umständen mit Schrift kaum in Berührung kommen, weil angenommen wird, sie wären ohnehin nicht in der Lage, Lesen zu lernen. Auch Eltern sind nicht sicher, ob ihr Kind mit Cerebralparese lesen lernen wird, bzw. nehmen eher an, dass ihr Kind lediglich Symbole oder einfache Texte lesen können wird.2 Es wurde untersucht, wie die Literacy-Erfahrungen von Kindern mit schweren Behinderungen aussehen. Literacy wird definiert als die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Dies beginnt nun aber nicht erst mit dem Schuleintritt, sondern umfasst alle Erfahrungen mit Schrift, z.B. das Kritzeln auf ein Blatt oder das gemeinsame Anschauen eines Bilderbuches. Vor allem dysarthrische Kinder mit Einschränkungen in der Verständlichkeit oder Kinder mit Schwierigkeiten in der Feinmotorik werden weniger häufig aktiv in ein gemeinsames Leseerlebnis involviert. 2 Wenn sich die Bezugspersonen gar nicht vorstellen können, wie ein gemeinsames Leserelebnis gestaltet werden kann, wird es auch weniger stattfinden. Wie kann das Kind umblättern? Wie kann sich ein Kind, das sich nicht lautsprachlich äussert überhaupt beim gemeinsamen Lesen einbringen? Es ist an uns Therapeut:innen beratend zur Seite zu stehen und beispielsweise Bücher zu adaptieren und Umblätterhilfen anzubringen, auf Internetplattformen mit barrierefreien Büchern (z.B. Tar Heel Reader) hinzuweisen oder Kommunikationstafeln bereitzustellen, mit deren Hilfe das Kind sich beim gemeinsamen Lesen einbringen kann. Praxisideen finden sich auf verschiedenen Homepages, die das Ziel haben, Literacy allen Kindern nahezubringen. 3,4
Ein eindrückliches Beispiel für einen gelungenen Schriftspracherwerb ist Jonathan Bryan. Er hat eine schwere Cerebralparese (GMFCS Level V) und ist unfähig zu sprechen, den Kopf zu kontrollieren oder eine Augensteuerung zu nutzen. Durch die Unterstützung seiner Mutter, welche ihn im Lesen unterrichtete, konnte Jonathan mit Hilfe einer Eye-Gaze-Tafel lesen lernen. Heute ist er 16 Jahre alt, hat ein Buch geschrieben 5, ist Blogger und Gründer einer Wohltätigkeitsorganisation mit dem Namen „Teach us too“. Sein Ziel: Alle Kinder sollen im Lesen und Schreiben unterrichtet werden, unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Die Plattform stellt Wissen zur Verfügung und bietet Weiterbildungen für Fachpersonen an. Es ist inspirierend zu sehen, wie die Möglichkeit zu schreiben einen anderen Zugang zur Welt eröffnet: Mit der Fähigkeit zu schreiben kann Jonathan teilen, was in seinem Inneren vorgeht und er wird anders gesehen.
Vielleicht müssen wir auch davon ausgehen, dass jedes Kind lesen lernen kann, wie es Erickson & Koppenhaver annehmen. 1 Vielleicht werden wir dann überrascht - so wie ich, als ich neulich mit einem Mädchen ohne Lautsprache das Buch „Heisses Wetter“ las. Sie hörte lange zu und freute sich an den Bildern. Um dann – von sich aus und spontan – das Wort „Sonnenschirm“ auf dem iPad drückte, ein Wort, das wir zuvor noch nie gebraucht hatten. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, wie sie dieses Wort gefunden hatte. Wir freuten uns beide, sie, weil sie sich einbringen konnte und ich, weil sie so zeigte, dass sie vielleicht tatsächlich wird Lesen lernen können.
Und da sich Sonnenschirme hervorragend eignen, um drunter zu sitzen und mit einem Buch zu reisen, wünsche ich allen sonnige Tage und frohe Lesestunden.
Quellenangaben