Kolumne
Lass mir Zeit – die sensomotorische Entwicklung

Lass mir Zeit – die sensomotorische Entwicklung

Petra Marsico

Physiotherapeutin & Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kinder-Reha Schweiz

Studienleiterin SAKENT I ASEND

Lasst mir Zeit heisst der Titel des Buches von Emmi Pikler, welches 1982 erstmals erschien (3. Auflage 2001).1

In ihrem Buch beschreibt sie einen Weg des aufmerksamen und respektvollen Begleitens der Kinder von Geburt an. Die Bewegungsentwicklung erfolgt aus Eigeninitiative des Säuglings und durch selbständiges Versuchen. Sie beschreibt die Wichtigkeit der Rolle des aktiven Bewegens und zeigt Zusammenhänge des Körperschemas, der Orientierung im Raum und Zeit, der Sinne und der Kognition auf. Damit das Kind sich fortzubewegen lernt, müssen wir nicht mit ihm üben, es speziell fördern oder die Bewegungen lehren. Es lernt selbst, aus einem inneren Antrieb, aus sich heraus.

In der Bobath Therapie jedoch arbeiten wir mit Kindern, welche aufgrund einer zentralen Läsion nicht die gleichen Voraussetzungen haben wie ein Kind, das sich normal entwickelt. Das Kind, das wir in der Therapie sehen, hat eventuell nicht die Möglichkeit dieselben Erfahrungen über Bewegung und die Sinne zu machen. Es kann einen Gegenstand nur schwer fassen, sich nur mit viel Anstrengung zur Seite drehen oder zu einem Gegenstand hinbewegen. Vielleicht ist das Kind frustriert, weil es sein Ziel nicht erreicht oder weil es oft scheitert. Es erstaunt mich immer wieder wie sich unsere Therapiekinder trotz diesen schweren Umständen zu fröhlichen Kinder entwickeln, die sich gerne bewegen, in dem Umfang, der ihnen zur Verfügung steht. Wie sie sich Treppen hoch kämpfen, obwohl es ihnen nicht möglich ist eine Sekunde frei stehen zu können. Dies erscheint mir manchmal wie Hochleistungssport. Als ich das Buch von Emmi Pikler las, überlegte ich was ihre Beobachtungen für mich als Therapeutin bedeuten könnten. Sie schreibt, dass die Kinder nicht nur zeitweise üben, sondern kontinuierlich, sich bewegend. Wenn die Umwelt so eingerichtet ist, dass der Säugling sich frei bewegen kann, braucht es keine Inputs um Bewegung zu lernen. Wenn das Kind stufenweise lernen kann sich selbst zu bewegen, sein Spielzeug selbständig sucht und seine Position und seinen Platz selbständig wechselt, ist das Kind beim Spielen selten auf Hilfe angewiesen. Die Kinder, welche Emmi Pikler beobachtet hat sind selten länger als 2 ½ Minuten in derselben Position geblieben. Dieser Antrieb und die optimale Umgebung ermöglichen ein physiologisches Bewegungslernen. Die Kinder im Kinderheim Loczy in Budapest, welches Emmi Pikler von 1946 bis 1978 leitete, wurden nicht auf den Bauch gelegt, nicht hingesetzt, nicht hingestellt. Die Kinder bekamen die Möglichkeit diese Bewegungen selbständig zu lernen oder sie sich zu „erspielen“. Sie bekamen viel Zuwendung in der Pflege, genügend Raum um sich zu Bewegen und Anerkennung, wenn sie eine neue Position selbständig erreicht hatten. Die Säuglinge wurden mit Worten und behutsamen Bewegungen auf die nächste Handlung vorbereitet, ein Grundrecht jedes Menschen, das darin besteht, sich mit ihm über das, was mit ihm geschieht, zu verständigen. Für mich als Therapeutin heisst dies aufmerksam zu sein und die Signale der Kinder wahrzunehmen, diese Signale ernst zu nehmen und darauf zu antworten. Es bedeutet Verein Bobath-TherapeutInnen Schweiz | Association Thérapeutes Bobath Suisse info@ndtswiss.ch | www.ndtswiss.ch tet für mich ebenfalls den Eltern die Bedeutsamkeit der Eigenaktivität ihrer Kinder zu vermitteln. Sie dabei zu unterstützen aufmerksam zu sein und sowohl den Eltern als auch den Kindern positive Rückmeldungen zu geben. Denn oft sind wir viel zu schnell und greifen in die Handlungen des Kindes ein. Was bei einem Kind mit einer Bewegungsschwierigkeit wohl noch viel öfters geschieht, als bei einem Kind das ohne solche Einschränkungen aufwächst.

Wir sind alle gleich gefordert, sowohl in der Praxis, wie auch in der Forschung, zu beobachten, zu analysieren und Zurückhaltung walten zu lassen. Es gibt viele Studien, die aufzeigen, dass Kinder mit Cerebralparese sich im Alltag zu wenig bewegen. Die Schlussfolgerung ist meist, dass die Kinder sich mehr bewegen müssen um eine bessere Lebensqualität zu erreichen. Mit viel Eifer werden Konzepte erarbeitet, um die Kinder aktiver zu machen. Doch was bedeutet dies für die Kinder? Würden wir uns mehr bewegen, wenn die Bewegung für uns ebenso anstrengend wäre wie für ein Kind mit wenig motorischen Möglichkeiten, oder wenn wir Schmerzen hätten? Haben wir die Kinder und Jugendlichen gefragt?

Quellenangaben

  1. Pikler, E. Lasst mir Zeit- Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. (Pflaum Physiotherapie, 1997)
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