Kolumne
Kinder mit Migrationshintergrund

Kinder mit Migrationshintergrund

Ruth Portmann

selbständige Kinderphysiotherapeutin, Wohlen

MSc Physiotherapie

Migrationskinder: In meiner letzten Kolumne versuchte ich mir Gedanken über transkulturelle Kompetenz zu machen und mehr Wissen darüber ans Licht zu zerren. Diesem Wissensdrang bin ich noch weiter nachgegangen und habe im Januar 2018 an der ZHAW Gesundheit am Weiterbildungskurs „Transkulturelle Kompetenz & Anamnese“ (Karin Brendel, Hebamme, MSc Education) teilgenommen. Aus all den behandelten Themen möchte ich Euch über die Erkenntnisse zu den Migrationskindern berichten und all die Umstände um sie herum, also ihre Lebenswelt aufzeigen.

Es besteht das Anliegen der gesundheitlichen Chancengleichheit, welche bedeutet, dass jede Person die gleichen Chancen hat, ein möglichst hohes Mass an Gesundheit zu erhalten. Die gesellschaftlichen respektive politischen, sozioökonomischen, ökologischen, rechtlichen Bedingungen sind so zu gestalten, dass Individuen ihr Gesundheitspotenzialausschöpfen können (1). Das Gesundheits-und Krankheitsverständnis wird beeinflusst von der Bedeutung des Geschlechts, von den Ausdrucksformen für Schmerz, von der Kommunikation, von der Religion, von der Pflege in der Familie. Dabei hat sich Ilkilic 2011 speziell mit dem muslimischen Verständnisauseinandergesetzt und nach der Sinndeutung der Krankheit in dieser Bevölkerungsgruppe und den daraus resultierenden Konfliktfeldern gesucht (2).Wir können uns also fragen: Welches Gesundheitsverständnis herrscht in der Familie meines Therapiekindes?

Die globalen Flüchtlingszahlen besagen, dass 2016 von den65.6 Mio. Menschen auf der Flucht die Hälfte Kinder und Jugendliche waren (3).Die Asylstatistik des SEM (Staatssekretariat für Migration) beschreibt 2016 die Altersverteilung von Kindern genauer, wobei es von 0-4 Jahren rund 2600, von5-9 Jahren 1900, von 10-14 Jahren 1500 und von 15-19 Jahren knapp 6000 Kinderwaren (4).

Als Migrationskinder in der Schweiz bezeichnet man Kinder, die mit und ohne Familie in die Schweiz migriert sind; hier geborene Kinder mit anderer Staatsangehörigkeit; Kinder (mit ausländischem Pass oder auch schon eingebürgerte) deren Grosseltern oder Urgrosseltern MigrantInnen waren; Schweizer Kinder mit binationalen Eltern (5). Wie stark ist unser Therapiekind schon verwurzelt?

Das Kind ist Teil einer Migrationsfamilie, deren Integration einem dynamischen Prozess unterliegt und in fünf Phasen unterteilt werden kann: Vorbereitungsphase, Migrationsakt, Phase der Überkompensation, Phase der Dekompensation, Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse (5). In welcher Phase steckt unser Therapiekind? Die Migrationsfamilie ist psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Dabei fehlen Netzwerke und die Grossfamilie, was von den Eltern eine gute Zusammenarbeit erfordern würde. (6).

Der Migrationsprozess von Kindern wird beeinflusst durch die Migrationsgründe, durchs Einreisealter, durch die politische Steuerung der Migration, durch die Haltung der einheimischen Bevölkerung und durch die Darstellung in den Medien. Wie alt war es bei der Einreise und was hat es schon in seinem Umfeld als Migrationskind erlebt?

Die Lebenswelt jedes Migrationskindes wird offensichtlich durch viele unterschiedliche teils parallel verlaufende oder korrelierende Faktoren bestimmt. Es gibt also nicht DAS Migrationskind und dementsprechend nicht DIE Anamnese und Behandlungsmöglichkeiten. Wir sollen uns als Fachpersonen nicht vom äusseren Anschein und vorgefassten Stereotypisierungen blenden lassen. Vielmehr sollen wir uns all dieser unterschiedlichen Faktoren immer wieder Gewahr werden. Die Pflege, Behandlung und Betreuung von Migrationskindern umfasst eine offen gestaltete Begegnung mit den Eltern und deren Vertrauensgewinn, den Aufbau eines kooperativen Kontakts und des gegenseitigen Vertrauens mit dem Kind. Dazu hat Lanfranchi 2007 ein Arbeitsinstrument verfasst: «Prinzipien einer professionellen Arbeit mit Migrationskindern». Darin befinden sich drei Themenkreise: die Erhöhung der transkulturellen Kompetenz, der Umgang mit Widerständen und die Ressourcenorientierung. Lasst uns also gut beobachten und zuhören und den Erzählungen unserer Therapiekinderempathisch folgen!

Quellenangaben

  1. Kolip, P., Wie erreiche ich meine Zielgruppe.Gesundheitliche Chancengleichheit durch massgeschneiderte Projekte fördern.Fokus – Das Magazin von Gesundheitsförderung Schweiz 25, 12-16 (2005)
  2. lkilic, I., Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichungfür die Gesundheitsberufe. 6. Auflage. Bochum: Zentrum für Medizinische Ethik(2011)
  3. United Nations High Commissioner for Refugees UNHCR (19.Juni 2017)
  4. Staatssekretariat für Migration SEM, Asylstatistik (23. Januar 2017)
  5. Brendel,K., Schwager, M., Stupka, E., Konzept Beratung, Kommunikation und kulturelleInteraktion im Bachelorstudiengang Hebamme. Unveröffentlichtes Manuskript,ZHAW, Winterthur, Schweiz (2011)
  6. Loncarevic, M., Migration und Gesundheit.In: Domenig, Dagmar: Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-,Gesundheits- und Sozialberufe. Huber, Bern: 139-161. (2007)
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